120 Jahre organisiertes Freidenkertum
von Heiner Jestrabek
(Artikel erschienen in "Freidenker" 2001)
Vor 120 Jahren, am 10. April 1881 fand in Frankfurt/Main der Gründungskongress des Deutschen Freidenkerbundes statt. Die Konstituierung eines deutschen Freidenker-Verbandes fand erst auf Anregung der ein Jahr zuvor in Brüssel gebildeten Fédération Internationale de Libres Penseurs statt. Eigentlich wollten Europas Freidenker schon 1870 in Genf zusammenkommen, um den Internationalen Freidenkerbund (IFB) zu gründen ‑ das sah jedenfalls eine 1869 in Neapel auf dem 'Gegenkongress' zum ersten Vaticanum verabschiedete Resolution vor. Aber der deutsch‑französische Krieg verhinderte das Unternehmen. Vornehmlich auf Initiative belgischer und französischer Freidenker wurde der Gründungskongress 10 Jahre später, vom 29. bis 31. August 1880, nach Brüssel einberufen. Die Zeitlage mache den "Kampf gegen die immer unverschämter auftretende politische, kirchliche und geistige Reaktion jedem Freidenker zur ernstesten Pflicht", kommentierte die freigeistige Zeitschrift 'Menschentum' die Einladung.
Hinter dem Plan, umgehend eine deutsche Sektion der Brüsseler Internationale zu gründen, standen in erster Linie der Darmstädter Arzt und Verfasser der berühmten Schrift 'Kraft und Stoff', Prof. Dr. Ludwig Büchner (siehe 'Wer war Ludwig Büchner?') und der Gothaer Schriftsteller und Herausgeber mehrerer freigeistiger Zeitschriften, Dr. August Specht. Specht bereitete das Projekt mit großer Sorgfalt vor. So ermittelte er zunächst mit Hilfe von Inseraten in seinem Blatt Menschentum, wie viele Leser voraussichtlich als Mitglieder der neuen Organisation in Frage kommen würden, und war selbst erstaunt, als sich etwa 2000 Interessenten meldeten. Anfang 1881 veröffentlichte Specht mehrere gleich lautende Aufrufe zur Gründung eines allgemeinen deutschen Freidenkerbundes am 10. April 1881 in Frankfurt. Neben Büchner, Dulk, Sachse und Schläger, die bereits in Brüssel dabei gewesen waren, unterzeichneten 32 Förderer, unter ihnen bekannte Namen der freigeistigen Szenerie, die Einladung.
Die Zahl der Teilnehmer an dem Gründungskongress in Frankfurt ist nicht überliefert, eine große Abordnung stellten jedoch die Freireligiösen, die durch Scholl/Nürnberg, Voigt/Offenbach und den deutschkatholischen Prediger Flos/Frankfurt/M. vertreten wurden. Dies überraschte, da der neue Bund in Konkurrenz zu den freireligiösen Gemeinden gegründet werden sollte, an denen Specht kritisierte, dass sie "die Eierschalen ihres kirchlichen Ursprungs noch zu sichtbar an sich (...) tragen" und "ihre inneren Gebräuche zu lebhaft an diejenigen der Kirche erinnern" würden. Viele Freidenker fürchteten, so Specht, dass sich dort ein neues Pfaffenthum in verbesserter Auflage" breit mache. Außerdem seien die Begriffe 'deutschkatholisch' und 'frei‑religiös' schon ein Widerspruch in sich selbst. Specht würdigte aber auch die aus seiner Sicht positiven Leistungen des Freigemeindetums für das freie Denken und brachte später eine mit großer Mehrheit angenommene Resolution ein, in der er die Gemeinden der Sympathie des Deutschen Freidenkerbundes (DFB) versicherte und ein künftiges segensreiches Zusammenwirken beider Gemeinschaften in Aussicht stellte.
Als Leitungsgremium bestimmte man einen sechsköpfigen Vorstand und einen 12-köpfigen Ausschuss. Gewählt wurden: als Präsident: Prof. Dr. Ludwig Büchner, Darmstadt; Stellvertreter: Prediger Karl Voigt, Offenbach a. M.; Schriftführer: Dr. August Specht, Gotha; Stellvertretende Schriftführer: Herr von Hasenkamp und Benjamin Lehmeier, beide Frankfurt a. M.; Schatzmeister: Rudolf Neutwig, Frankfurt a. M. Dem Ausschuss gehörten fernen an: Dr. Albert Dulk, Untertürkheim; Hauptmann a.D. von Ehrenberg, Schlüchtern; Gutsbesitzer Geisel, Oberingelheim; Rentier Husemann, Detmold; Dr. Löwenthal, Berlin; Sprachlehrer Oppenheim, Frankfurt a. M.; Prediger Sachse, Magdeburg; Dr. Schläger, Berlin; Ingenieur Schneeberger, Wien; Prediger Scholl, Nürnberg; Emil Stiebel, Frankfurt a. M.; Bankier Ulrich, Stuttgart. Die Gründung des Freidenkerbundes wurde ebenfalls unterstützt von Otto von Corvin (dem Autor des 'Pfaffenspiegel'), Max von Nordau und anderen religionskritischen Persönlichkeiten[1].
Ein, für die damalige Zeit bemerkenswertes Detail, vermerkte das Protokoll: "... wurde auch darauf hingewiesen, dass Frauen stimmberechtigt sein sollen, da ja auf dem internationalen Freidenker-Kongreß in Brüssel eine Frau sogar als Vizepräsidentin fungiert habe."
Dr. Albert Dulk, der schon zu den Gründungsdelegierten des 'Internationalen Freidenkerbundes' (IFB) am 29./31. August 1880 in Brüssel gehörte, formulierte in seinem Kongressvortrag die prägnante Definition des neuen Freidenkertums nunmehr mit den Worten: "Freiheit ist für jedes Wesen der ungestörte vollkommene Gebrauch seiner Kräfte, der volle Ausdruck der eigensten eingeborenen Gesetzlichkeit. So ist denn Freidenkertum nichts anderes als das unbehinderte und unverirrte, das naturgesetzliche und richtige Denken des Menschen."
Erste Freidenkergemeinde
Am 2. April 1882 kam es, auf Dulks Initiative, zur Gründung der ersten deutschen 'Freidenkergemeinde' in Stuttgart, deren erster Sprecher Dulk wurde: "Und gründete selbst am 2. April 1882 die erste deutsche Freidenkergemeinde in Stuttgart". Dulks Aktivitäten, öffentliche Reden und Auftritte, standen schon vorher fast immer in Zusammenhang mit Freidenkertum. Nachdem er Anfang Oktober 1878 als Verfasser eines Flugblattes wegen "Volksverhetzung" für ein Jahr ins Gefängnis musste, bekam er gleich im Dezember zusätzlich weitere zwei Monate wegen "Gotteslästerung" und "Kirchenschmähung" in öffentlichen Vorträgen aufgebrummt (nach dem heute noch immer bestehenden § 166 StGB). Die Anwendung de § 166 des Strafgesetzbuches war schon damals antiquiert und empörte die kritische Öffentlichkeit. Eine Verquickung des Gotteslästerungstatbestandes mit dem Sozialistengesetz galt den Zeitgenossen als ein Akt von politischer Gesinnungsjustiz. Erst am 22. Dezember 1879, nach insgesamt vierzehn Monaten im Heilbronner Gefängnis, wurde Dulk aus der Haft entlassen. Albert Dulk war also eine Persönlichkeit, die auf vielfältige Weise Interesse wecken kann: als Dichter, Dramatiker, Reiseschriftsteller und Abenteurer, Naturwissenschaftler und Philosoph, 1848er und Sozialist - und nicht zuletzt als Religions- und Kirchenkritiker und engagierter Freidenker, der dies auch noch sehr öffentlichkeitswirksam verkündete. (Siehe auch 'Wer war Albert Dulk?')
Die erste deutsche Freidenkergemeinde Stuttgart formulierte in Dulkscher Begrifflichkeit ein Statut (beschlossen, den 2. April 1882): "Wir verwerfen den Glauben an einen menschenähnlichen, persönlichen Gott, welchen Namen man ihm auch gebe. - Wir glauben daß, was Gott genannt wird, das Leben der Welt selbst in seinem großen höchsten Einklang ist, das nicht aus überlieferten Schriften und Wundererzählungen, sondern aus den Gesetzen der Natur erkannt werden muß. - Wir erkennen, daß der höchste Einklang der Menschennatur das Gute ist und darum ist uns Gott das Gute für die Menschenwelt. Die Erfüllung des Guten die Sittlichkeit, ist uns die praktische Religion. Nicht Anbetung des Gottesrätsels, sondern Erkenntniß und rechtes Handeln ist unser Zweck. - Wir haben den lebendigen Willen, die Erkenntniß zu pflegen und unsere Kinder in ihr heranzubilden; uns gegenseitig in Freude, Leid und Arbeit des Lebens beizustehen; einander und allen Menschen zu einem besseren menschenwürdigen Dasein nach Kräften zu verhelfen."
Aus der heutigen Sicht fällt auf, dass alles etwas zahm formuliert war und eindeutige Begriffe, wie Atheismus oder philosophischer Materialismus, tunlichst gemieden wurden. Immerhin handelte es sich hier schon um die erste Gruppe in Deutschland, die nicht mehr, wie die bisherigen 'Freireligiösen' sich als "frei in der Religion" erklärten, sondern nunmehr als 'Freidenker'[2] "frei von der Religion" waren. Dies war - und so verstanden sich auch die mehrheitlich atheistisch und sozialistisch gesonnenen Freidenker - ein Programm, das nur eindeutig atheistisch gedeutet werden konnte. Dulk berichtete, nicht ohne Stolz, über die "erste deutsche Freidenkergemeinde in Stuttgart welche trotz polizeilicher Chicane u sonstiger Schwierigkeiten u Unterdrückungsversuche sich bis jetzt eines stetig wachsenden Gedeihens erfreut u kürzlich ihr erstjähriges Stiftungsfest feierte. - Die Gründung u Consolidierung der Gemeinde sowie mein Beruf als Sprecher derselben haben dieses ganze Jahr hindurch fast ausschließend meine Zeit u Kräfte in Anspruch genommen - dennoch ist es mir möglich gewesen (namentlich während der Sommermonate, die ich immer ganz für mich abgeschlossen in irgend einer stillen Waldeinsamkeit zu verbringen pflege) ein Hauptwerk meines Lebens ... "Der Irrweg des Lebens Jesu" soweit zum Abschluss zu bringen." Mit der polizeilichen 'Chicane' gegenüber den Freidenkern war auch das ausdrückliche Verbot von Versammlungen der Gemeinde am Sonntagvormittag gemeint. Bis heute gibt es in Baden-Württemberg diesen diskriminierenden Paragraphen. Für Nichtkirchgänger ist hier das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit außer Kraft![3]
Freidenker und Sozialdemokratie
Die Gedanken der Freidenker wurden in der Sozialdemokratie nicht nur positiv aufgenommen. Von Karl Kautsky finden sich Einlassungen, anlässlich der Debatte um Dulks 1884 erschienenen Aufsatz 'Das Sittengesetz' im theoretischen Organ der Sozialdemokratie, 'Die Neue Zeit'. Nachdem am 6. März 1884 auch im 'Sozialdemokrat' freigeistige Strömungen abgekanzelt worden waren, nahm Dulk unter dem Titel 'Der Kampf der Ideen' Stellung: Religion sei für Freidenker "nichts anderes als Weltanschauung" und zwar Weltanschauung der vernünftigen Wissenserkenntnis. Deswegen könne auch die Religion nicht Privatsache sein, wie dies im sozialdemokratischen Parteiprogramm festgelegt war; Privatsache könne nur die Konfession sein. Die etablierte christliche "unvernünftige" Religion, trage den Charakter von Fesseln, die den Fortschritt behindern. Deswegen müsse der Atheismus "öffentliche soziale Macht werden". Dann könne "der Unterdrückungsgott der wirtschaftlich Stärkeren gestürzt, die Idee der Gleichheit aber Leben und Tat werden!" In der Fortsetzung der Debatte schrieb Dulk am 10. April, dass die herrschenden Ideen die herrschenden Verhältnisse an der Macht hielten. Durch Erziehung zu Dummheit, Knechtschaft, Aberglauben und übersinnlicher Furcht würden diese Ideen unter den Menschen verbreitet. Der Endpunkt sei immer "Gott", "ein himmlischer Popanz": "Der Kampf gegen die, unsere Staatsordnung sichernde Religion der Massen und gegen die aus ihr fließende schlechte Moral ist nicht nur notwendig und 'real' wie der volkswirtschaftlich-politische, sondern er ist der aller-revolutionärste und grundlegend."
Bemerkenswert hierbei ist, dass diejenigen, die Dulk vorwarfen, durch angebliche Überbetonung der Religionskritik vom Primat des Materiellen abzurücken - also ihm somit philosophischen Idealismus unterstellten, ja, sich sogar zu der Feststellung durchrangen, die Religion sei innerhalb der Arbeiterschaft sowieso schon überwunden, der Atheismus habe sich bei den sozialdemokratischen Arbeitern bereits überlebt - sich später häufig im Lager des politischen Opportunismus wiederfanden.
Friedrich Engels erkannte auch im Alter selbstkritisch: "Dass von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen." Und: "Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, dass die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit."[4]
Eben, die dialektischen Wechselbeziehungen! Und der ökonomische Kampf allein erspart auch nicht den Gebrauch des eigenen Kopfes. Das Anliegen Dulks ist so immer noch aktuell.
Bleiben wir bei der Nachwirkung Dulks auf die sozialistische Bewegung. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus - ob sozialdemokratischer oder parteikommunistischer Richtung - eine Auseinandersetzung zweier Richtungen in der Frage der Religionskritik. Ideologischen und ökonomischen Kampf verbanden Persönlichkeiten wie Max Sievers, der vor 1933 SPD-Reichstagsabgeordneter und zugleich Vorsitzender des 'Deutschen Freidenker-Verbandes' war. Kommunistische Freidenker, wie Peter Maslowski oder Walter und Anna Lindemann bemühten sich, differenzierte Religionskritik innerhalb der Arbeiterbewegung zu verbreiten. Die andere Richtung, die eine Ignoranz gegenüber dem freidenkerischen Anliegen pflegte, war aber auch immer um vermehrten Einfluss bemüht. Solange die Freidenker eine Massenbewegung waren[5], war ihr Einfluss auch nicht zu übersehen. Nachdem diese Bewegung 1933 durch die Nazis zerschlagen wurde, konnten sich die Freidenker in Deutschland nie mehr richtig erholen. Die Arbeiterparteien nach 1945 gaben so auch, nach und nach, freidenkerische Positionen preis. Für die Schriften Dulks fand sich von parteioffizieller Seite kein Interesse mehr. Kein, den Arbeiterparteien nahestehender, Verlag legte seine Schriften neu auf. Lediglich die Freidenker der Tschechoslowakei besorgten in den 30er Jahren eine Übersetzung und Herausgabe von Dulkschen Schriften[6].
Halbe und ganze Freidenker
Der Nachfolger Dulks, als prominentester württembergischer Sozialdemokrat, ebenso wie als Sprecher der Stuttgarter Freidenker, war der ehemalige Rabbiner Jakob Stern (siehe auch: 'Wer war Jakob Stern?'). Bemerkenswert für die Diskussion innerhalb der damaligen Bewegung war die Rede 'Halbes und ganzes Freidenkertum'[7], gehalten auf dem Stuttgarter Freidenkerkongress vom 28. bis 30. Mai 1886 und die gedruckt als Broschüre weite Verbreitung gefundenen hat. Stern begründete darin eine Verbindung von atheistischem Freidenkertum mit politischer Ökonomie. Es war dies eine Kampfschrift gegen jene bürgerlichen Freidenker, die der Arbeiterbewegung meist gleichgültig gegenüberstanden, aber die Religion mitsamt dem Gottglauben ohne historisch-psychologisches Verständnis leidenschaftlich bekämpften als Wurzel der Hauptübel in Staat und Gesellschaft. Er sprach darüber, dass die Aufgaben der Freidenker "weit über das religiöse Gebiet hinausgingen. Wer bloß religiöse Aufklärung anstrebe, sei nur ein halber Freidenker. Man muss auf allen Gebieten, namentlich auch auf den politischen, sozialen und wirtschaftlichen, den freien Glauben pflegen und muss sich von allem und jedem Autoritätsglauben voll emancipieren." (...) "Verständigen wir uns über den Begriff Freidenkertum etwas näher. Freies Denken heißt ein Denken, das sich von allen überkommenen Vorurteilen losgemacht hat und unbefangen der Wahrheit huldigt, soweit dieselbe nach dem Stand der Wissenschaft erforscht ist. Das freie Denken unterscheidet sich vom nicht freien Denken dadurch, dass es sich weder von Autoritäten, noch von Traditionen imponieren lässt, wie es auch alle Fesseln der Gefühls- und Pietätsrücksicht abgestreift hat. Logische Gründe nur sind ihm maßgebend, die Logik allein ist seine Richtschnur. Nicht das kann freies Denken genannt werden, wenn man auf die Dogmen des Unglaubens schwört, statt auf die Dogmen des Glaubens, und an Büchner und Specht, statt an Papst und Pfarrer glaubt. Unfrei ist jedes Denken, das nicht jederzeit bereit ist, entsprechend dem nie stille stehenden Fluss der Forschung, sich kritisch zu korrigieren. (...) Nicht jeder kann epochemachend sein als freier Denker; aber jeder kann sich die Ergebnisse des freien Denkens auf allen Gebieten zu eigen machen und von jedem, der auf den Namen eines freien Denkers Anspruch erhebt, kann erwartet werden, dass er dies tue, dass er nicht auf dem einen Gebiet ein freier Denker ist, auf dem anderen die Ketten der Tradition und Autoritäten nachschleppt; denn dann ist er eben kein ganzer, sondern nur ein halber Freidenker."
Das Schlagwort vom 'halben Freidenker' wurde zum geflügelten Begriff und sollte in der Folgezeit nicht nur auf das bürgerliche Freidenkerlager, das die soziale Frage ignorierte, Anwendung finden, sondern im Umkehrschluss natürlich auch auf die Sozialisten, die sich vor der Religionskritik herumdrücken wollten.
Den Schriften Sterns erging es übrigens wie denen seines Vorgängers Albert Dulk. Obwohl beide zu Lebzeiten starke Beachtung gefunden hatten, wurden sie bald nach ihrem Tod vergessen gemacht und aus dem Bewusstsein der sozialistischen Debatte getilgt. Das ist in mehrfacher Hinsicht bedauerlich. Vielleicht hätte die Sternsche Symbiose - Spinozismus, Freidenkertum und Sozialismus - statt von westlicher Sozialdemokratie und östlichem "Realsozialismus" mit Ignoranz gestraft zu werden, helfen können, so manche Fehlentwicklungen zu verhindern.
Rechristianiserung der Linken
Der geschwundene Einfluss des organisierten Freidenkertums stellte eine parallele Entwicklung zum Untergang des größten Teils der Arbeiterkulturbewegung dar. Arbeitersänger, -sprechchöre, -theater, -sportler und -literatur konnten ihre Massenbasis der Weimarer Republik nie mehr aufnehmen. Natürlich hat dies alles mit den veränderten Zeitbedingungen und der Schwäche der Linken zu tun. Aber warum wir heute immer noch das Phänomen einer 'Rechristianisierung' innerhalb der Linken konstatieren müssen, ist nicht so recht einzusehen.
Es fällt auf, dass in der Linken nach dem Zweiten Weltkrieg eine an Denkfaulheit grenzende Gleichgültigkeit ideologischen Fragen gegenüber Einzug gehalten hat; die Begründungen hierfür reichen vom Hinweis, Religionskritik lenke von wichtigereren Fragen ab, bis hin zur These, die Religionsfrage erledige sich sowieso von alleine, wenn der Sozialismus erst ökonomisch gesiegt hätte[8]. Dabei ist es gleichgültig, ob sich dieser Fatalismus linksradikal[9] gebärdet oder rechtsopportunistisch, bis hin zum fatalistischen ideologischen Eintopf-Syndrom, nach dem die kirchliche Humanismus-Terminologie für wahr angenommen wird. Dieser Opportunismus findet sich weit verbreitet innerhalb der Sozialdemokratie[10], aber auch bei den KPs, die dem Bündnis mit der christlichen Friedensbewegung und wenigen fortschrittlichen Pfarrern immer wieder höhere Bedeutung zumessen als der eigenen freidenkerischen Tradition. Damit keine Missverständnisse entstehen: Freidenker traten immer für Dialog und Zusammenarbeit mit Christen ein. Aber eben ohne die Aufgabe der eigenen Identität.
Schließlich äußert sich die 'Rechristianisierung der Linken' in der völligen Aufgabe sogar von demokratischen Minimalforderungen, wie der Trennung von Staat und Kirche und der Abwendung von jeglicher Ideologiekritik, bis hin zu offener Gegnerschaft zum Freien Denken. Dies geht so weit, dass durch linke Parteien eine offen klerikale Politik gefördert wird, laizistische Positionen von opportunistischen Politikern aufgegeben werden; trauriger Höhepunkt war das Verbot der Freidenkerverbände in der UdSSR und deren Satellitenstaaten[11].
Bis heute äußert sich dieser verhängnisvolle Opportunismus darin, dass Dulk, Stern und andere in Archiven, Standardwerken und Lexika der ehemaligen DDR nicht anzutreffen waren und somit praktisch zu Unpersonen wurden. Die Erfassung und Auswertung deren Werke wurde sträflich vernachlässigt und somit ganze Generationen von Wissenschaftlern und Sozialisten zu Analphabeten des Freien Denkens. Diese Denkweise ist eigentlich eine dem wissenschaftlichen Sozialismus fremde Methode, eine mechanisch-metaphysische Arbeitsmethode und Ideologie, im Kern also überlebter bürgerlicher Idealismus. Die vergessenen Freidenker verbanden eine fundamentale Religionskritik, die aktiv gepflegt werden muss, mit einer vielschichtigen Behandlung des Phänomens Religion als gesellschaftlich wirkender Ideologie. An diese Denkweise anknüpfend bleibt Religionskritik bis heute von Bedeutung: sie ist weltanschauliche Grundlage für jene, die sich in ihrem Handeln dem Fortschritt und der Freiheit der Menschheit verpflichtet fühlen. Das Lebenswerk von Freidenkern wie Albert Dulk, Jakob Stern oder Fritz Lamm (siehe auch 'Wer war Fritz Lamm?') - auch wenn es wie bei allen Pionieren nicht frei von Irrtümern und Fehleinschätzungen ist - bietet hierfür manche brauchbare Handhabe.
Wer war Ludwig Büchner (1824-1899)?
1824 Ludwig Friedrich Karl Christian Büchner am 28. 3. in Darmstadt geboren. Ludwig wurde frühzeitig von den revolutionären Ideen seines älteren Bruders, dem Dichter Georg Büchner, beeinflusst.
1843‑1848 Medizinstudium in Gießen und ein Semester in Straßburg. Anschluss an eine progressive akademische Verbindung an.
1848 begrüßte Ludwig begeistert die Revolution und wurde in Gießen zu einem engen Vertrauten von August Becker, einem Anhänger Weitlings und einstigen Freund seines Bruders Georg. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Alexander, der in Gießen Jura studierte, publizierte er in der von Becker geleiteten Zeitung »Der jüngste Tag«.
1848 medizinisches Staatsexamen. Anschließend Arbeit in der väterlichen Praxis, Würzburg und Wien.
1850 Ludwig veröffentlichte anonym die »Nachgelassenen Schriften von Georg Büchner« worin dessen »Hessischer Landbote« erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
1852 Assistenzarzt mit Lehrberechtigung an der Universität Tübingen. Nachdem jedoch
1855 sein bekanntes Buch »Kraft und Stoff« erschienen war, wurde er von der Universität vertrieben und fand niemals wieder eine Anstellung als Hochschullehrer. Er übernahm in Darmstadt die väterliche Praxis und verband diese Tätigkeit mit einer sehr regen publizistischen und Vortragstätigkeit.
1874 während einer USA-Reise etwa 100 Vorträge in 32 Städten.
1881 Gründer des »Deutschen Freidenkerbundes« und weitere Vortragtätigkeit. Neben atheistischer Propaganda setzte sich Ludwig für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände ein, forderte die Enteignung des Großgrundbesitzes, die Demokratisierung des gesamten Unterrichtswesens und eine wissenschaftliche Ausbildung in allen seinen Einrichtungen, die Trennung von Staat und Kirche, Kirche und Schule. Die Politik des deutschen Kaiserreiches nach 1871 lehnte er ab. Er sprach sich wiederholt gegen Militarismus, Chauvinismus und Antisemitismus aus und trat für Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern ein.
Ludwig Büchner engagierte sich stark in den Arbeiterbildungsvereinen und pflegte freundschaftliche Beziehungen zu führenden Sozialdemokraten. Kritik fand Büchner bei den Marxisten (Vorwurf des »Vulgärmaterialismus« - MEW 20+21, LW 14), aber auch bei Fritz Mauthner ("... im Grunde ein trivialer Schriftsteller; woraus denn seine ungeheure Popularität zu erklären war" in »Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande« Bd. 4 (1923). Trotzdem waren seine Schriften vor allem in Arbeiterkreisen weit verbreitet, v.a. sein Buch »Kraft und Stoff« fand starke Verbreitung, das allein 1856 drei Auflagen erlebte und 1904 in der 21. Auflage erschien und in viele Sprachen übersetzt wurde.
1899 am 30. 4. verstarb Ludwig Büchner in Darmstadt.
Werkauswahl: Kraft und Stoff. Empirisch‑naturphilosophische Studien, Frankfurt a.M. 1855; Natur und Geist. Gespräche zweier Freunde über den Materialismus und über die real‑philosophischen Fragen der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1857, Physiologische Bilder, 2 Bde., Leipzig 1861, 1875; Aus Natur und Wissenschaft. Studien, Kritiken und Abhandlungen, 2 Bde., Leipzig; 1862, 1884; Herr Lassalle und die Arbeiter. Bericht und Vortrag über das Lassallesche Arbeiterprogramm, 1863; Der Gottesbegriff und dessen Bedeutung in der Gegenwart, Leipzig 1874; Der Fortschritt in Natur und im Lichte der Darwinschen Theorie, Stuttgart 1884; Über religiöse und wissenschaftliche Weltanschauung, Leipzig 1887; Am Sterbelager des Jahrhunderts. Blick eines freien Denkers aus der Zeit in die Zeit, Gießen 1898.
Wer war Albert Dulk (1819-1884)?
1819 Albert Friedrich Benno Dulk wird am 17. Juni in Königsberg geboren in den Folgejahren Schule, Apothekerlehre, Chemiestudium und Apothekergehilfe.
1845 Leipzig: Ausweisung nach einer Rede für die Opfer des "Volkskrawalls
1846 Untersuchungshaft in Halle. Aus politischen Gründen wird Dulk die Promotion verweigert; daraufhin Promotion in Breslau mit einer Dissertation über das Dammarharz. 26.10. Hochzeit mit Johanna (Hannchen) Dulk (1823-1889); der Lebensgemeinschaft schließen sich bald Pauline (Ini) Butter (1821-1902) und Else Bussler (1824-1899) an
1848 Teilnahme an der Revolution und Gründung eines Arbeitervereines. Herausgabe des Wochenblattes 'Der Handwerker'
1849 Austritt aus der evangelischen Kirche. Reise durch Österreich und Italien, ab November nach Ägypten
1850 Reise durch Ägypten und Einsiedelei auf dem Sinai,. Juli/August Rückkehr nach Europa, im Oktober Übersiedelung in ein einsames Chalet oberhalb des Genfer Sees.
1865 im Mai wird Dulk württembergischer Staatsbürger, am 17.7. durchschwimmt Dulk den Bodensee von Romanshorn nach Friedrichshafen in 6 ½ Stunden
1871 Umzug nach Untertürkheim, in den Folgejahren Vortragstätigkeit über altdeutsche Mythologie und Religionskritik, Engagement für die Sozialdemokratie, Landtags- und Reichtstagskandidaturen in Stuttgart
1875 Abgeordneter des Stuttgarter 'Allgemeinen Deutschen Arbeitervereines' beim Vereinigungsparteitag der Sozialdemokratie in Gotha. Dulk hält am 25.7. eine Festrede zum 'Ersten Stiftungsfeste der Socialistischen Arbeiterpartei'
1878 Sozialistengesetze: Verbot der Sozialdemokratie bis 1890. Verhaftung am 29.7., dem Vorabend der Reichstagswahl, am 22.10. tritt er in Heilbronn eine 14monatige Haftstrafe wegen "Vergehens gegen die öffentliche Ordnung" und wegen "Religionsschmähung" an
1880 Teilnahme am Internationalen Freidenker-Kongreß in Brüssel
1882 am 2.4. Gründung der ersten deutschen Freidenkergemeinde in Stuttgart, deren Sprecher Dulk wird
1884 29.10.: Tod durch Herzschlag auf dem Stuttgarter Bahnhof. 2.11.: Überführung des Leichnams zum Bahnhof in Form einer sozialistischen Massendemonstration mit mehreren Tausend Teilnehmern
1885 Enthüllung der von Arbeitern gestifteten Büste am Dulk-Häusle, oberhalb von Esslingen
Werkauswahl:
Orla. Dramatische Dichtung. Zürich/Wintertur: 1844, Lea. 1848, Die Wände. Königsberg 1848, Die Verschwörung. 1848, Simson. Drama. 1859, Jesus, der Christ. Drama. Stuttgart: 1865, Konrad II. Schauspiel. Leipzig 1867, Patriotismus und Frömmigkeit. Kaiserslautern 1871T, Willa. Schauspiel. Wien 1875, Stimme der Menschheit. Christliche Glaubenslehre. Ein Lehrbuch für kirchenfreien Religionsunterricht in Gemeinde, Schule und Haus. Teil 1, Kritische Glaubenslehre. Leipzig 1875, Nieder mit den Atheisten! Ein Gespräch zwischen Frömmigkeit, Verstand und Liebe. Leipzig 1876, Was ist von der christlichen Kirche zu halten? Eine gedrängte Darstellung der Quellen und Geschichte des Christentums. Sechs öffentliche Vorträge gehalten zu Stuttgart 1876. Zürich: 1877, Stimme der Menschheit. Teil 2, Positive Glaubenslehre oder ideelle Religion. Leipzig 1880, Der Irrgang des Lebens Jesu. Stuttgart 1884, Gedichte. Ausgewählt aus seinem Nachlass. Stuttgart 1887, Sämtliche Dramen. Erste Gesamtausgabe. 3 Bde. Hrsg. von Ernst Ziel. Stuttgart 1893/94
Tipp:
Albert Dulk. "Nieder mit den Atheisten!" Ausgewählte religionskritische Schriften aus der frühen Freidenkerbewegung. Herausgegeben von Heiner Jestrabek, Reihe Klassiker der Religionskritik Band 3. IBDK-alibri, Aschaffenburg 1995
Wer war Jakob Stern(1843-1911)?
1843 Jakob, ursprünglich Isaak, Stern wird am 28. Mai im württembergischen Niederstetten geboren, Sohn von Moses Stern (1809-1898) und Flora Stern, geb. Frankfurter (1817-1897)
1858 Fünf Jahre Talmud-Hochschule Jeshiwah in Preßburg und der
1863 Stuttgarter Gymnasium mit Maturitätsprüfung
1866 Drei Jahre Studium (mos.theol.stud.) in Tübingen, Adresse Kronenstr. 120, bei Leopold Hirsch, Abschluß mit Staatsprüfungen
1872 Heirat mit Rifka (Rebekka) Ney (1848-1886)
1874 Rabbinatsverweser in Mühringen bei Horb
1874 bis 1880 Rabbiner in Buttenhausen im Oberamt Münsingen
1880 Umzug nach Stuttgart, Schloßstraße 55, Adresse bis 1885. Neue berufliche Existenz als Schriftsteller und Journalist
1880/81 Suspendierung vom Amt; Aufgabe des Rabbinerberufes
1885 Umzug in die Militärstraße 12 - heutige Breitscheidstraße - in Stuttgart; Wohnung bis zu seinem Lebensende
1886 Tod seiner erst 38jährigen Frau Rifka. Nach 14 Ehejahren war sie zum neunten Mal schwanger geworden und hatte bereits vier kleine Kinder verloren; sie stirbt an den Folgen eines medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruches; die beiden Söhne Leo (13 Jahre) und Richard (12 Jahre) werden in die USA zu Verwandten geschickt, die Töchter bleiben beim Vater
1886 Aufsehenerregende Rede auf dem Stuttgarter Freidenkerkongress vom 28. bis 30. Mai Halbes und ganzes Freidenkertum
1889 Noch während der Gültigkeit der Sozialistengesetze Kandidatur für den Landtag im Oberamt Cannstatt
1890 Fall des Sozialistengesetzes; Stern hält die Jubelrede in der Stuttgarter Parteiversammlung
1891 Für den Erfurter SPD-Parteitag formuliert Stern den Programmentwurf; er gehört zum linken Parteiflügel
Seit 1903 konnte Stern nicht mehr öffentlich auftreten
1911 An Darmkrebs und Depressionen schwer erkrankt Freitod am 1. April
Lehrbuch der Vernunftreligion. Zürich: Schabelitz 1879. Die Religion der Zukunft. Stuttgart: Dietz 1883. Die Philosophie Spinozas. Leipzig: Reclam 1887. Baruch Spinoza: Ethik. Übersetzt von Jakob Stern. Leipzig: Reclam 1888. (Neuauflage Leipzig: Recalm 1987). Der Einfluß der sozialen Zustände auf alle Zweige des Kulturlebens. Stuttgart: Dietz 1888. Thesen über den Sozialismus. Stuttgart: Dietz 1889. Halbes und ganzes Freidenkerthum. Zeit- und Streitschrift. Stuttgart: Dietz 1890. Programmentwurf für den Erfurter Parteitag der SPD vom 20.10.1891. In: Vorwärts vom 6.10.1891. Der "Historische Materialismus" und die Werttheorie von Karl Marx. Eine populäre Darstellung. München 1894. Morgenroth. Sozialdemokratische Fest- und Zeitgedichte. Mit einem Anhang: Prologe und Festspiele. Stuttgart 1894. Der Zukunftsstaat. Thesen über den Sozialismus. Sein Wesen, seine Durchführbarkeit und Zweckmäßigkeit. Gott? Gottglaube oder Atheismus? Berlin: Vorwärts 1907.
Tipp:
Jakob Stern. Vom Rabbiner zum Atheisten. Ausgewählte religionskritische Schriften. Herausgegeben von Heiner Jestrabek unter Mitarbeit von Marvin Chlada, Reihe Klassiker der Religionskritik Band 4. IBDK-alibri, Aschaffenburg 1997
Wer war Fritz Lamm (1911-1977)?
1911 Geburt in Stettin am 30. Juni. Sohn von Emma und Magnus Lamm, jüdische "Kaufleute in der Herrenkonfektionsbranche".
1917 - 1929 Bismarck-Oberrealschule in Stettin. Entlassung mit "Prima - Reife".
1929 Arbeit im väterliche Geschäft. Mitgliedschaft in SPD, SAJ, Gewerkschaft und Naturfreunde, "kommend aus der deutsch-jüdisch-bürgerlichen Jugendbewegung über -Pazifismus und Frömmigkeit zum Marxismus".
1929/30 Auflösung des väterlichen Geschäftes. Volontär beim sozialdemokratischen "Volksbote" in Stettin.
1931 Zwei Ausschlussverfahren aus der SPD "wegen Radikalisierung der Jugend anhand von Schriften von Marx und Engels" und wegen Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in der SPD mit der "Deutschen Friedensgesellschaft". Abbruch des Volontariats.
Gründungsmitglied der SAP (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands). Versuch als Buchhändler und Leihbibliothekar. Tätigkeit für die Büchergilde Gutenberg. Mitglied der Bezirksleitung Pommern des SJV (Sozialistischer Jugendverband) und der SAP Ortsleitung Stettin.
1933 Nach dem Reichstagsbrand (27. 2. 1933) fünf Tage "Schutzhaft". Erneute Verhaftung am 3. Mai
1934 Am 2. Januar Verurteilung vor dem 4. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig, wegen Vorbereitung zum Hochverrat (Herstellung und Verbreitung illegaler Schriften) zu 2 Jahren und 3 Monaten.
1934/35 Haft im Strafgefängnis Naugard in Pommern
1935 Ende Oktober aus der Haft entlassen und unter Polizeiaufsicht gestellt. Illegale Tätigkeit.
1936 Am 14. Januar Flucht zunächst aus nach Stuttgart und die Schweiz. Verhaftet von den Schweizer Behörden, nach Österreich abgeschoben, nach sechs Wochen weitere Flucht in die Tschechoslowakei. Dort politische Tätigkeit in der SAP. Gründung der FDJ (Freie Deutsche Jugend). Statist am Theater. Arbeit für die Schweizer Büchergilde.
1938 Mitte August Ankunft in Paris. Arbeit bei der SAP mit Sternberg und Walcher.
1939 Am 1. September Verhaftung. Sechs Wochen im Pariser Zentralgefängnis, dann Internierung im Lager Vernet d'Aridge in den Pyrenäen als „feindlicher Ausländer“
1940 Im Oktober mißlungener Fluchtversuch. Gefängnissen von Port de Buc und Aix en Provence. Januar 1941 zurück in Vernet.
1941 Dezember. Bei einer Gesundheitsuntersuchung, nördlich von Toulouse, erneuter Fluchtversuch mit Hilfe einer SAP-Genossin. Drei Monate illegal in Marseille. Von amerikanischen Genossen bekam er ein Visum für Cuba.
1942 März. Mit gefälschten Ausreisepapieren Flucht auf einem Schiff über Casablanca nach Havanna, Cuba. Das erste halbe Jahr Aufenthalt im Internierungslager Tiscornia bei Havanna.
1942 -1948 Tätigkeit als Teildiamantenschleifer. Sekretär der Gewerkschaft der ausländischen Diamantenschleifer. Korrespondent und Buchhalter in einem Importgeschäft von Schweizer Uhren. Enger Kontakt zu Thalheimer und Brandler.
1945 Ab Kriegsende erfolglose Versuche, nach Deutschland zurückzukehren.
1948 1. November. Rückkehr nach Deutschland, an den Ort, von wo er geflohen war, nach Stuttgart.
1948 15. November. Leiter des Redaktionssekretariats der "Stuttgarter Zeitung". Wiedereintritt in die SPD, die Gewerkschaft und die "Naturfreunde."
1949 Juni. Der erste "Thomas Münzer-Brief" erscheint, fünf weitere folgen bis zum April 1950, als "Vorarbeiten" zu der Zeitschrift "funken", Aussprachehefte für sozialistische Politik (die erste Nummer mit dem Untertitel: Aussprachehefte radikaler Sozialisten)
1950 Juni. Erste Nummer der "funken". Hauptautor in allen Jahrgängen: Fritz Lamm.
1951 28. Januar. Kandidatur zur Gemeinderatswahl für die SPD, wird nicht gewählt.
1952 Dezember. Nach dem Zeitungsstreik bei der "Stuttgarter-Zeitung" Versetzung zur Vertriebsabteilung mit der Begründung; Redaktionssekretär "sei ein Vertrauensposten und jemand, der mehr zur Gewerkschaft hält als zur Firma, der könne keinen Vertrauensposten haben.' Mit kurzer Unterbrechung im Betriebsrat der "Stuttgarter Zeitung".
1953/54 Vorsitzender des Betriebsrats bis 1974.
1950-1960 Tätigkeit bei der Gewerkschaft "Druck und Papier", bei den "Naturfreunden', im Ortsvorstand der SPD. Zusammenarbeit mit Gruppen der SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund).
1959 Nach 10 Jahrgängen. Ende der Zeitschrift "funken".
1961 Mitbegründer der "Fördergesellschaft der SDS", nach dessen Ausschluss aus der SPD, zusammen mit Abendroth, Flechtheim und Heydorn.
1963 Erneuter Ausschluss aus der SPD, wegen seiner Zugehörigkeit zur "Fördergesellschaft" und einer Rede zum 1. Mai 1961 in Berlin.
1964 Zweiter Vorsitzender im Ortsvorstand der IG-Druck und Papier. Rege Zusammenarbeit mit dem SDS.
1960-1977 Rastlose politische Tätigkeit, v.a. in Vorträgen und Publikationen der "Neuen Linken", der Gewerkschaft und der "Naturfreunde". Mitarbeit im "Sozialistischen Büro, Offenbach".
1974 Pensionierung
1977 15. März. Tot durch Herzschlag.
Tipp:
Fritz Lamm. Christus als Standuhr. Ausgewählte religions- und gesellschaftskritische Texte. Herausgegeben von Marvin Chlada unter Mitarbeit von Heiner Jestrabek und Michael Benz, Reihe Klassiker der Religionskritik Band 5. alibri, Aschaffenburg 1998
Anmerkungen:
[1] weitere Einzelheiten: Jochen-Christoph Kaiser: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Stuttgart 1981 und Horst Groschopp: Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland. Berlin 1997
[2] 'Freireligiöse': Entstanden in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts aus undogmatischen und demokratischen Abspaltungen von den beiden Großkirchen ('Freie Protestanten', 'Lichtfreunde', 'Deutschkatholiken'). Vereinigten sich 1859 zum 'Bund freireligiöser Gemeinden'. 'Freidenker': Die ersten Freidenker bezeichneten sich nach den englischen Deisten, den 'free thinkers' des frühen 18. Jahrhunderts. Das moderne Freidenkertum organisierte sich in den 1880er Jahren im 'Freidenkerbund' und ab Beginn des 20. Jahrhunderts auch in den, sich nunmehr sozialistisch verstehenden Freidenkerverbänden ('Verein für Freidenkertum und Feuerbestattung', 'Zentralverband proletarischer Freidenker' und deren Nachfolgeverbände DFV und VpF)
[3] Gesetz über Sonn- und Feiertage Baden-Württemberg, § 7: "An Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen ... sind während des Hauptgottesdienstes verboten: öffentliche Veranstaltungen und Vergnügungen, zu denen öffentlich eingeladen oder für die Eintrittsgelder erhoben werden." Es folgen weitere Verbote für Messen, Märkte und Sportveranstaltungen an Sonntagen vor 11 Uhr.
[4] Friedrich Engels an Joseph Bloch, 21. September 1890, in: Karl Marx - Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 6. Berlin 1972 und Friedrich Engels an Rudolph Meyer, 19. Juli 1893, in: Karl Marx - Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 6. Berlin 1972
[5] Mitgliederzahlen der Freidenkerverbände: Die sozialdemokratisch geführten Verbände 'Deutscher Freidenker-Verband' (1933): 660.000 und 'Bund sozialistischer Freidenker' (1930): 20.000; der kommunistisch geführte 'Verband proletarischer Freidenker' (1933): 140.000; die bürgerlich geführten Verbände 'Deutscher Monistenbund' (1930): 10.000 und 'Volksbund für Geistesfreiheit' (ein Zusammenschluss von 'Freidenkerbund' und 'Freireligiösen) im Jahr 1914: 50.000 Mitglieder.
[6] Nach den Angaben von Leopold Grünwald, ehemaliger Sekretär des tschechoslowakischen Freidenkerverbandes in den 30er Jahren, anlässlich eines Interviews mit Heiner Jestrabek (Wien, 1990).
[7] dokumentiert in: vom freien denken. kleine filosofiegeschichte von heiner jestrabek, ulm 1996
[8] Vgl. hierzu die Debatte im 'Sozialdemokrat' 1884
[9] So etwa Anton Pannekoek, ein sozialdemokratischer Theoretiker, der zwischen 1906 und 1914 vor sozialistischem Freidenkertum warnte. In seiner Schrift "Religion und Sozialismus" sprach er von "Kraftvergeudung" und "Nebenzielen", vor denen man sich "hüten" müsse.
Zitiert nach Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, S. 118f.
[10] Vgl. hierzu den programmatischen Kurswechsel der SPD, festgelegt im 'Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen von Außerordentlichen Parteitag der SPD in Bad Godesberg vom 13.-15. November 1959'. Die altbewährten Forderungen nach einer Trennung von Staat und Kirche, sowie nach einer Weltlichkeit der Schule wurden gestrichen. Der Vorsitzende Erich Ollenhauer erklärte hierzu ausdrücklich, dass sich in dieser Frage die Meinung der Sozialdemokratie geändert hätte und es sich bei diesen neuen Formulierungen nicht nur um taktische handeln würde. Protokoll der Verhandlungen des o.g. Parteitages. Hrsg. Vorstand der SPD Bonn. 1960.